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Titel
Bessern und Verwahren. Die Praxis der administrativen Versorgung von "Liederlichen" und "Arbeitsscheuen" in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain (19. und frühes 20. Jahrhundert)


Autor(en)
Lippuner, Sabine
Reihe
Thurgauer Beiträge zur Geschichte 142
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 32.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Untersuchungen über die gesellschaftliche Integration und Stigmatisierung von Individuen und Gruppen sowie über die damit verbundenen komplementären Prozesse des Ausgrenzens und institutionellen Einschliessens haben derzeit Konjunktur in der schweizerischen Geschichtswissenschaft – nicht zuletzt dank des noch laufenden Nationalen Forschungsprogramms 51 „Integration und Ausschluss“ des Schweizerischen Nationalfonds. Als gemeinsamer Fluchtpunkt der verschiedenen Analysen erweisen sich dabei zunehmend die Praktiken und Diskurse zur Herstellung gesellschaftlicher Konformität und (selbst-)regulierender Normalität in der „organisierten Moderne“ (Peter Wagner). Einen wichtigen Beitrag zu dieser Forschungsdebatte leistet die Zürcher Dissertation von Sabine Lippuner, die sich am Beispiel der Thurgauer Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain mit der „administrativen Versorgung“ beschäftigt. Damit ist eine bisher erst am Rande beachtete öffentlich-rechtliche Zwangsmaßnahme gemeint, die nicht durch ein Gericht, sondern eine Verwaltungsbehörde verfügt wurde. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten „administrative Versorgungen“ gängige Instrumente einer repressiven Armen- und Fürsorgepolitik der Schweizer Kantone dar, die eine Besserung oder Verwahrung „liederlicher und arbeitsscheuer“ Personen bezweckte. Die betroffenen Männer und Frauen wurden meist des Missbrauchs von Fürsorgeleistungen oder der Landstreicherei bezichtigt oder stellten in den Augen der Behörden, ohne eine Straftat begangen zu haben, eine „Gefahr“ für die öffentliche Ordnung dar.

In sieben Kapiteln untersucht Lippuner die Entstehung, Funktionsweise und Auswirkungen dieser Versorgungspraxis am Beispiel der 1851 eröffneten Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain. Die politischen Entscheidungsprozesse, die vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1840er Jahre zur Eröffnung der Anstalt führten, werden in den Kapiteln I und II zunächst auf den zeitgenössischen Diskurs über die Rechtsnatur und Opportunität verwaltungsrechtlicher Versorgungsmaßnahmen bezogen. Die bürgerlichen Sozialreformer thematisierten dabei nicht nur die Ursachen der Massenarmut, sondern auch das Verhältnis von individueller Freiheit und öffentlicher Ordnung. Lippuner zeigt, wie Armut primär als Resultat eines fehlgeleiteten Gebrauchs der Freiheit und als individuelles Versagen problematisiert wurde. Gleichzeitig galt Armut als „Vorhof zum Verbrechen“. Im Gegenzug sollten „liederliche Personen“ mittels institutionalisierter Zwangsarbeit wieder zu einer geordneten Lebensführung erzogen und charakterlich gebessert werden. Die administrative Versorgung galt als Maßnahme der Besserung, die dem Individuum und der Gesellschaft gleichermaßen zugute kam und als solche weder eine strafrechtliche Schuld voraussetzte, noch ein gerichtliches Einweisungsverfahren verlangte. Angesichts dieser Zielsetzung erstaunt es nicht, dass die Großzahl der in Kalchrain von 1851 bis 1918 internierten „Correctionellen“ zur Klasse der landarmen Unterschichten und Taglöhner gehörte, die sich mit Kleinhandel und Gelegenheitsarbeiten, aber auch mit Bettelei, Prostitution oder Eigentumsdelikten über Wasser hielten. Das Anstaltsregime, dem sich diese, mehrheitlich männlichen, Außenseiter unterworfen sahen, war durch patriarchalische Unterordnungsverhältnisse, Arbeitszwang, schmale Kost und Disziplinarstrafen geprägt. Wie Lippuner betont, blieb bis zum Ersten Weltkrieg vom anfänglich hochgehaltenen erzieherischen Impetus wenig übrig und die administrative Versorgung geriet schnell in den Ruch, eine camouflierte Strafe zu sein.

In den Kapiteln IV bis VI rekonstruiert Lippuner das armen- und sozialpolitische Interventionsfeld, das sich mit der Errichtung der Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain konstituierte, aus drei unterschiedlichen Perspektiven: der kommunalen Armenbehörden, der kantonalen Exekutive und der Internierten. Anhand weniger Fallbeispiele wird zuerst exemplarisch und detailliert die Gemengelage von Motiven und Handlungskonstellationen aufgezeigt, die zu einer Anstaltseinweisung führten. Deutlich wird dabei einmal mehr, dass sich eine obrigkeitliche Sozialdisziplinierung in der Mikroperspektive keineswegs eindeutig ausnimmt. So sahen die Thurgauer Kirchgemeinden, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für die Fürsorge zuständig waren, in der Zwangsarbeitanstalt ein durchaus flexibles Instrument ihrer Armenpolitik, das keineswegs allein der Besserung, sondern auch als Mittel der Drohung, der Abschreckung und der Verhaltenslenkung und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch der Sicherung diente. Die kommunale Armenpolitik bezweckte mit dem nachdrücklichen Einfordern von Unterstützungsbeiträgen und Alimenten in erster Linie eine „Restabilisierung der Familien“ (Karin Hausen), wobei der Durchsetzung des bürgerlichen (Klein-) Familienideals keineswegs Priorität zukam. Eine Polyvalenz kommt auch in der Praxis des thurgauischen Regierungsrats gegenüber den Gemeinden zum Ausdruck, die in einem zweiten Schritt analysiert wird: zum einen sah sich die Kantonsregierung als Garant eines rechtsstaatlichen Internierungsregimes, zum andern kam sie den Gemeinden im Hinblick auf die Vereinfachung und Flexibilisierung des Einweisungs- und Entlassungsverfahrens beträchtlich entgegen. Auf Druck der Gemeinden ging der Regierungsrat etwa in den 1850er Jahren dazu über, die Einweisungsdauer je nach Fall nachträglich zu verkürzen oder zu verlängern, wobei er gleichsam das Institut der bedingten Entlassung vorweg nahm. Dass der Einweisungspraxis stark asymmetrische Machtverhältnisse zugrunde lagen, zeigen schließlich die beschränkten Handlungsmöglichkeiten der Internierten, sich gegen die Einweisung, aber auch gegen die Behandlung in der Anstalt zur Wehr zu setzen. Renitente Anstaltsinsassen liefen etwa Gefahr, in die Psychiatrie abgeschoben zu werden. Auch individuelle Fluchtversuche und kollektive Meutereien endeten meist mit drastischen Sanktionen. Anhand von Bittschriften an Behörden und Gerichte analysiert Lippuner ausführlich die Rechtfertigungs- und Unterwerfungsstrategien, mit denen die Internierten die Entlassung verlangten und dabei – wenn auch erfolglos – juristisch durchaus versierte Kritik an der „Administrativjustiz“ übten.

Das letzte Kapitel erweitert den Blick über den Kanton Thurgau hinaus und verweist auf die Interdependenzen zwischen einer repressiven Armen- und einer regulativen Kriminalpolitik, die sich im Vorfeld der Entstehung des schweizerischen Strafgesetzbuches abzeichneten. Dieses nahm schließlich die Einweisung „liederlicher“ Delinquenten in Arbeitserziehungsanstalten in den Sanktionskatalog auf. Einen wichtigen Berührungspunkt bildeten dabei die nach 1870 einsetzende und bald von psychiatrischen Deutungsmustern dominierte Diskussion um die hohe Rückfälligkeit von Insassen der Zwangsarbeitanstalt. Lippuner sieht in diesen diskursiven Überlagerungen Anzeichen einer „Rationalisierung der Erziehungsidee“, die im schweizerischen Strafgesetzbuch, aber auch bereits im Thurgauer Verwahrungsgesetz von 1928 realisiert wurde: die Erziehung durch Arbeit sollte jenen Täter- und Personengruppen vorbehalten bleiben, bei denen Richter, Behörden und Psychiater eine „Besserung“ für möglich hielten; „Unverbesserliche“ galt es dagegen, auf lange Zeit zu verwahren. Solche „Teilungspraktiken“ (Michel Foucault) zeigten schließlich unmittelbare Auswirkungen auf Kalchrain: 1942 erhielt die Anstalt (auch) die Funktion einer Arbeitserziehungsanstalt und 1971 – nur wenige Jahre vor der definitiven Abschaffung der „administrativen Versorgung“ – die einer Vollzugsanstalt für „junge Erwachsene“. Gerade die Entwicklung Kalchrains nach 1942 wirft allerdings auch die Frage auf, ob die festgestellte „Rationalisierung der Erziehungsidee“ nicht generell stärker in den Kontext der ebenfalls um 1900 erfolgenden Institutionalisierung einer pädagogisch ausgerichteten Jugendstrafrechtspflege zu stellen wäre.

Ungeachtet dieser punktuellen Kritik, besticht die Untersuchung Lippuners durch fundierte Quellenarbeit, gute Lesbarkeit und eine sorgfältige Argumentation, wobei die Vorteile einer kontextualisierenden Regionalstudie klar zum Ausdruck kommen. Lippuner leuchtet den Entstehungskontext und die Praxis der „administrativen Versorgung“ beispielhaft aus und leistet so einen wertvollen Beitrag zur problematischen Geschichte des schweizerischen Armen- und Fürsorgewesens und zur Entstehung einer wohlfahrtsstaatlichen Kriminalpolitik, die beide bis heute nichts von ihrer Brisanz und Ambivalenz eingebüsst haben.

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